Donnerstag, 22. September 2011

Meditation

Ich erinnere mich an einen denkwürdigen Morgen während meines Gymnasiallehrerinnenstudiums (was für ein Wort), als morgens der Wecker klingelte und ich realisierte, dass ich vor einer grossen, schwarzen, bedrohlichen Wand stand.

Ich meine keine richtige Wand, die Wände in meiner Wohnung waren damals weiss, sondern eine Wand im übertragenen Sinn. Ich erinnere mich, dass sie nicht einfach nur schwarz war, sondern dass sie Details aufwies, Details, die quasi in Prozentabschnitte gegliedert waren. Ich würde über die nächsten 4 Monate...

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  1. ... 3 Halbtage pro Woche Vorlesungen besuchen (30%)
  2. ... eine Stellvertretung von 4 Klassen Deutsch übernehmen (75%, oder, wenn ich ehrlich bin, so etwas wie 73,78%, wenn ich aber noch ehrlicher bin: wenn man zum ersten Mal Deutsch unterrichtet, wie ich damals, kann man den Prozentsatz getrost mindestens mal 1,5 rechnen, also 110,67%)
  3. ... an der Uni so viel arbeiten, dass das Proseminar einigermassen aufrechterhalten werden kann (8.3%, dank einem sehr grosszügigen Chef)
Das ergibt ein Total von 148,97 %, wenn ich richtig zusammengezählt habe. Oder wir können es auch einfach sagen: Es lief mir heiss und kalt den Rücken herunter, als ich mir bewusst wurde, in was für einen Schlamassel ich mich da gestürzt hatte.
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Es musste also Abhilfe geschaffen werden: Aus meinen Versprechungen konnte ich mich nicht mehr zurückziehen, aber ich habe versucht, mir alles einfallen zu lassen, was mir irgendwie helfen könnte, und habe mir einen Kriegsplan für die 4 Monate zurechtgelegt, der ungefähr so ausgesehen hat:
  1. Ich habe Jonas in Hamburg angerufen und gefragt, ob er ein bisschen öfter in die alte Heimat fahren kann, damit sich für eine Weile meine ICE-Zeit etwas limitiert. Obwohl man da sehr gut Aufsätze korrigieren kann, wie ich später herausgefunden habe, weil ich nicht ganze 4 Monate lang auf Rhabarbersaftschorle verzichten konnte.
  2. Ich habe mich für JEDEN Samstag Abend zum Tanzen verabredet. Und nicht nur bis viertel nach 10, sondern richtig.
  3. Ich habe mich von allen meinen Freundinnen mindestens fünf Mal einladen und bekochen lassen. Hm, das sollte ich eigentlich wieder einmal tun. Wenn ich nur nicht so weit weg wäre...
  4. Und, ohne jemandem nun zu nahe zu treten, das war wohl der wichtigste Punkt: Ich habe mich an der Uni für einen Meditationskurs angemeldet. Mindfulness-based stress reduction. Oder Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion. Wer mehr wissen will, bekommt hier weitere Informationen
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So, und um diesen vierten Punkt geht es mir in meinem Blog heute. Dieser Kurs war etwas vom Besten, was ich so in meinem Leben angestellt habe. Wir lernten verschiedene Methoden zur Stressreduktion und Meditation kennen, probierten sie aus und wendeten sie an. Das hört sich nun technisch an, aber es bedeutet im Wesentlichen, dass ich die oben erwähnten vier Monate gut überstanden habe.

Für diejenigen von euch, die beim Wort Meditation immer noch ein bisschen zusammenzucken (ich habe das, zumindest bis zu diesem Kurs, auch gemacht), werde ich nun versuchen, ganz kurz zusammenzufassen, was den das eigentlich bedeutet, Meditieren. Achtung: Ich bin keine Expertin und erhebe hier in keiner Weise Anspruch auf Richtigkeit oder Wahrheit oder auch nur darauf, dass jemand anderes das genauso sieht wie ich.

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Also, bei der achtsamkeitsbasierten Stressreduktion geht es darum, eine für sich passende Meditationsform zu finden.

Warum braucht man aber überhaupt eine passende Meditation?

Stress oder Zukunftsangst oder Sorgen um dies und das hängen alle mit destruktiven Gedanken zusammen, die auf uns einprasseln, und von denen wir uns immer und immer wieder gefangen nehmen lassen. Wenn ich das schon so schreibe, wird klar, dass wir eine Wahl haben: Beim Meditieren versuchen wir, die Gedanken wie kleine Boote auf einem Fluss vorbeitreiben zu lassen. Wir schauen sie uns an, wir verschliessen nicht die Augen vor ihnen, aber wir steigen auch nicht ein.

Wenn wir nämlich einsteigen, haben die Gedanken (z. B. 'ich bin zu faul, einen Job zu finden', 'mich will sowieso keiner', 'es hat sich ja schon gezeigt, dass ich nur Absagen kriege' --> keine Angst, das widerspiegelt nicht meinen momentanen Gemütszustand, es ist nur zur Illustration gedacht) uns in ihrer Gewalt und wirbeln uns auf dem Fluss herum, ohne dass wir etwas dagegen machen können. Das führt erstens dazu, dass wir nicht mehr viel anderes wahrnehmen können als unsere destruktiven Gedanken, zweitens fühlen wir uns noch hilfloser und unsicherer, weil wir nicht mehr erkennen, dass wir eine Wahl haben und uns ohnmächtig fühlen. Wir verlieren also den Bezug zu allem, was jetzt gerade um uns herum ist und passiert.

Beim Meditieren versuchen wir, die Boote nüchtern und ruhig zu betrachten, die Gedanken und Gefühle anzuerkennen (z. B. 'Es ist nur natürlich, dass ich mir Sorgen mache wegen der Stellensuche, bin ich doch neu hier und kenne mich auf dem Arbeitsmarkt nicht aus.') und nicht zu bekämpfen ('Ich muss mich nur zusammenreissen, dann geht es schon.') und danach, das ist das Wichtigste, weiterziehen zu lassen.
Mit der Zeit werden die Boote immer weniger, und wir werden allmählich ruhig und können uns auf unseren Atem konzentrieren, ohne ständig von Gedanken hierhin und dorthin getragen zu werden.

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Das ist alles.

Es hört sich nach nicht viel an. Aber oh, es bedeutet mir mehr, als ich hier ausdrücken kann. Ich kenne diese Gedankenboote nur allzu gut, die mich bombardieren und so in Anspruch nehmen, dass ich alles um mich vergesse.
Deshalb wolle ich unbedingt meine Meditationspraxis aufrechterhalten nach diesem Kurs, und wisst ihr, wie lange ich durchgehalten habe? Ich glaube, wenn ich mich richtig erinnere, ungefähr eine halbe Woche, nachdem der Kurs und auch mein übermässiges Arbeitspensum zu Ende waren.

Und als ich im letzten Jahr hier ab und zu wieder versucht habe, mich hinzusetzen und ruhig zu werden, ging das nicht sehr gut und hat mich manchmal noch zusätzlich frustriert. So à la: 'Jetzt kann ich nicht einmal mehr fünf Minuten still sitzen! Nicht einmal mehr das, nachdem ich alles andere auch gerade überhaupt nicht kann.'

Hm, keine guten Voraussetzungen....

Deshalb habe ich mir einen Ruck gegeben und mich für einen weiteren Kurs angemeldet. Er dauert eine Woche und fängt morgen Abend an. Ich werde hoffentlich mit viel Ruhe und Energie zurückkommen und einiges zu erzählen haben. Oder vielleicht auch nichts, weil ich die Gedankenboote alle vorbeischwimmen lasse.


Ich wünsche euch in der Zwischenzeit einen warmen, sonnigen Herbst und bis glii
Helen

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P. S. Eigentlich bin ich nicht ganz 100% sicher, ob ich die vier Monate gut überstanden habe:

In diese Zeit fällt mein schlechtester, weil in keiner Art und Weise vorbereiteter Vortrag, in dem ich meine Vortragspartner blossgestellt und eine Skulptur aus Cherrytomaten und Zahnstochern gebaut habe (um die Hirnstruktur aufzuzeigen, aha).
Und mein peinlichster Vortrag (nicht derselbe), in dem ich es für eine gute Idee hielt, mit einem Rollenspiel einzusteigen, in dem ich Wein trinke (es war viertel nach 8 Uhr morgens) und den Rest des Vortrags nicht mehr recht wusste, wo mir der Kopf stand und deshalb einige Passagen zwei Mal und andere gar nicht erzählte. Je nach dem, wen man fragt, könnte die Antwort, ob mir dieses Meditieren viel geholfen habe, also auch anders ausfallen.

P.P.S WICHTIG: Diese Vorträge habe ich nicht an der Schule gehalten, sondern an der Uni, ja?! Nicht dass ihr denkt... I'm not even going there.

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